Tagesspiegel, 31.3.03

Fahren nach Gefühl

Blinde durften in Berlin hinter dem Steuer eines Autos sitzen

Von Maren Sauer

Jürgen Bünte strahlt über das ganze Gesicht, als er aus dem metallicgrünen Mittelklassewagen steigt. Dabei waren seine Runden auf dem 800 Meter langen Oval vor dem Olympia-Stadion vergleichsweise gemächlich. Höchstens 40 ist er gefahren, und vor zwei Jahren auf dem Flugplatz in Werneuchen hatte er die Tachonadel noch über die magische 100 getrieben - während seiner Frau der Atem stockte. "Wenn man den Fahrtwind nicht hört, weil die Autofenster geschlossen sind, hat man ohnehin kein Gefühl für die Geschwindigkeit", sagt er. Folglich konnte das Schneckentempo den Spaß, etwas ansonsten Verbotenes zu tun, nicht mindern. Der Steglitzer hat keinen Führerschein und ist zudem blind. Schon als Kind nahm er die Welt nur durch einen Tunnelblick wahr. Mit der Zeit verengte der sich immer weiter, bis Bünte nur noch Grau sah, "mal ein freundliches Hellgrau, mal ein dunkles Grau".

So wie ihm geht es 5000 Menschen in Berlin und etwa 155000 in ganz Deutschland. Sie lieben Trabis, weil die knattern und stinken. Sie hassen Radwege, die nur durch Farbmarkierungen von Gehwegen getrennt sind, weil diese mit dem weißen Langstock nicht erkannt werden können. Sie fordern die Chance, konventionelle Kreuzungen von solchen mit Grünpfeilen für Rechtsabbieger per akustischem Signal unterscheiden zu können. "Es ging uns beim Aktionswochenende 'Blind am Steuer' auch darum, Betroffenen den Herzenswunsch zu erfüllen, sich erstmals oder wieder hinters Lenkrad zu setzen", sagt Detlef Friedebold vom Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenverein Berlin. Über 400 taten es. Viele kamen nach mehrstündiger Anreise aus Hessen, Thüringen, dem Saarland oder Köln. 150 Fahrlehrer nahmen mit ihren Unterrichtsautos an der Veranstaltung teil, lotsten ununterbrochen Gehandicapte über den Parcours und Sehende, denen mit einer Augenbinde erst das Sehvermögen genommen werden musste.

Christian Larsen von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung probierte es als Erster. "Unbeschreiblich", meint er nach absolvierter Runde. Jede kleine Unebenheit auf der Straße mutiert zur Bodenwelle, das Gefühl für Entfernungen, Zeit und Raum ist völlig ausgeschaltet. Für Blinde ist dies etwas einfacher, weil sie ein Gefühl dafür haben, sich ohne Sehvermögen zu orientieren. Und die Sehenden? Sie konnten sich ein wenig hineinversetzen, was es bedeutet, am Verkehr teilzunehmen, ohne sehen zu können. Wenn es um Blinde geht, sind auch Sehende manchmal blind.

dpa, 30.03.2003

Ich bin ganz cool

Autofahren für Blinde in Berlin

Von Ulrike von Leszczynski

Berlin (dpa/bb) - Vor dem Berliner Olympiastadion fahren 50 Autos Schlangenlinien. Ein dunkler Mercedes streift den Bürgersteig, ein teurer BMW kommt einem Poller gefährlich nahe - dabei ist die Straße gut 20 Meter breit. Schaulustige reiben sich erstaunt die Augen. Wie können so viele Menschen an einem sonnigen Frühlingstag so übel Auto fahren? Des Rätsels Lösung ist für die Zuschauer erst Recht eine Überraschung: Alle Autofahrer sind blind, ihr weißer Stock liegt zusammengeklappt auf dem Rücksitz. Verkehrte Welt?

Fahrlehrer Bodo Krüger muss lachen, wenn er die entgeisterten Gesichter sieht. "Ja, heute fahren sie wirklich wie die Blinden", sagt er. Den Spruch bringt er sonst aus Jux, im rastlosen Berliner Stadtverkehr. Nun lässt er seine blinde "Schülerin" Ute Mütze Kuppelung, Gas und Bremse mit den Füßen ertasten, zeigt ihr, wo sie den Schaltknüppel und die Handbremse fühlen kann. "Ich bin ganz cool ", sagt die 60-Jährige gelassen. "Und wo ist jetzt die Straße?"

Die kuriosen Fahrstunden am Olympiastadion sind mehr als ein Spaß. Gemeinsam organisiert vom Berliner Blindenverein und vom Fahrlehrerverband soll die Aktion "Blind am Steuer" mehr Verständnis für Sehbehinderte im Straßenverkehr wecken. In Gesprächen erfahren die Fahrlehrer, was Menschen ohne Augenlicht Schwierigkeiten bereitet. Der Grüne Pfeil zum Beispiel, wenn die Rechtsabbieger anfahren. "Ich denke dann, ich kann losgehen", berichtet Ute Mütze. "Dabei steht die Fußgängerampel noch auf Rot".

Manchmal hupen Autofahrer auch, um Menschen mit weißem Stock auf ein Hindernis aufmerksam zu machen. "Ich erschrecke mich dann nur", ergänzt Ute Mütze. "Ich kann ja nicht sehen, was sie meinen." Sie klagt über falsch geparkte Autos auf Gehwegen, Hindernissen, mit denen sie nicht rechnet. "Ganz schlimm sind zugeparkte Kreuzungen". Erleichterung schaffen ihr dagegen Ampeln mit akustischen Signalen. Der Blindenverein kann nur an das finanziell klamme Land Berlin appellieren, nicht auch noch an dieser Hilfe zu sparen.

Doch nun sitzt Ute Mütze auf der anderen Seite: am Steuer. Zackig beschleunigt sie auf 40 Stundenkilometer. "Das ist schon ein gutes Gefühl", sagt sie. "Es hat etwas von Macht, diesen Kasten allein in Gang zu setzen". Die 60-Jährige, die als Kind erblindete, liebt die Selbstständigkeit und Unabhängigkeit. Sie hat Jura studiert, war Richterin am Berliner Verwaltungsgericht und hat zwei Töchter allein groß gezogen. Da hat sie keine Angst vorm Autofahren. Ihr Fahrlehrer lässt sie gewähren, greift nur ein, wenn es richtig eng wird.

Für Detlef Friedebold, Vize-Vorsitzender des Blindenvereins, ist die Sache mit den Autos schwieriger. "Ich bin erst mit 30 erblindet und war ein Autonarr", erzählt der 56-Jährige. "Das war echt hart, aufhören zu müssen". Noch immer interessiert er sich für Auto-Technik, ertastet neue Navigationssysteme. "Meiner Frau sage ich heute, wann sie schalten soll", ergänzt er. "Ich höre das besser."

Über 400 Blinde und Sehbehinderte haben sich zum Autofahren in Berlin angemeldet - die ältesten Teilnehmer sind über 70 und freuen sich auf eine Abwechselung im Alltag. Die jungen Blinden aber, aufgeregte 17-Jährige mit erstem Schnauzbert, wollen richtig Spaß haben. Einmal einen Mercedes auf 60 Sachen zu bringen, mitreden zu können, wenn die Freunde über Fahrstunden reden, Motoren und PS. Sie wollen das alles einmal fühlen - sehen werden sie es nie.

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